»Wir können es uns nicht leisten, Verbesserungspotenzial liegenzulassen«
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Die Lage in der Produktion ist alles andere als rosig. Doch statt den Kopf in den Sand zu stecken, rät MPDV-Manager Jürgen Rieger: »Gerade jetzt müssen wir anpacken!« Bilder: MPDV
Viele Fertigungsbetriebe zögern mit der Entscheidung, Digitalisierung voranzutreiben. Doch die aktuelle Marktsituation lässt dafür kaum noch Spielraum. Jürgen Rieger, Executive Manager Consulting (EMC) bei MPDV erklärt im Gespräch, warum es an Veränderungsbereitschaft fehlt und warum nicht nur die IT, sondern alle Mitarbeiter im Mittelpunkt stehen.
Produktionsunternehmen kämpfen mit der schwachen Wirtschaftslage, steigenden Kosten und Wettbewerbsdruck, aber auch mit Fachkräftemangel und Regulierungen. Wie gelingt es Produktionsunternehmen, angesichts der vielen Herausforderungen, sich zukunftsfähig aufzustellen?
Rieger: Alle aufgeführten Herausforderungen sind schwierig, die Konsequenz daraus darf aber nicht sein, den Kopf in den Sand zu stecken. Gerade in der Produktion, gab es schon immer Problemstellungen und es wird sie auch immer geben. Letztendlich geht es darum, im Umfeld der direkten Mitbewerber die Pole Position zu besetzen bzw. zu verteidigen. Ein wesentlicher Erfolgsfaktor dabei ist, tagtäglich dranzubleiben. Also im Grunde den klassischen kontinuierlichen Verbesserungsprozess in der Unternehmenskultur zu verankern.
Welche Voraussetzungen sind dafür nötig?
Rieger: Besonders wichtig sind das Commitment des Managements für den Prozess und die Standortbestimmung, also die Ist-Analyse der vorhandenen Abläufe. Wie laufen die Prozesse und wie arbeiten wir heute wirklich? Das sind Fragen, die beantwortet werden müssen. Hiermit ist nicht die Prozessbeschreibung im Managementhandbuch gemeint. Es kommt darauf an, die Prozesse der Mitarbeiter, die tagtäglich damit arbeiten, zu untersuchen. Zu klären ist auch: Kann und will ich das selbst leisten oder hole ich mir dafür Experten? Aber keine reinen IT-Experten mit der Lösung in der Tasche – sondern Spezialisten mit Erfahrung in Lean Management, um Verschwendung in Unternehmensprozessen zu vermeiden und die passende Lösung zu finden.
Oft heißt es, dass die Digitalisierung in der Industrie zwar fortschreitet, aber dennoch großes Aufholpotenzial besteht. Wo sehen Sie Nachholbedarf?
Rieger: Ganz klar in der Veränderungs- und Umsetzungsbereitschaft. Wir sehen tagtäglich Unternehmen mit enormem Potenzial in puncto Digitalisierung. Oft sind die technischen Lösungen wie moderne Steuerungen, Sensorik, IT-Systeme, etc. schon vorhanden, um die Potenziale der Datentransparenz zu heben. Es gibt eigentlich keinen Grund, in Untätigkeit zu verharren.
Produktionsunternehmen schrecken angesichts der schier unendlichen Lösungsauswahl für die Digitalisierung ihrer Betriebe zurück. Was würden Sie empfehlen?
Rieger: Der erste wichtige Schritt ist die Standortbestimmung. Das klingt zunächst aufwendig und zeitraubend. Mit Unterstützung von Experten, die das schon oft gemacht haben, lässt sie sich schnell und effizient durchführen. Die Ist-Analyse deckt Schwachstellen sowie Potenzial auf und schafft Klarheit bei der Priorisierung der Aufgaben. Damit wird auch die Lösungsauswahl kleiner.
Warum sollte eine fundierte Strategie vorliegen?
Rieger: Die Strategie muss klären, wo Sie mit Ihrem Unternehmen, mit dem Werk oder mit der Produktion hin wollen oder müssen. Daraus lassen sich die Anforderungen an die Prozesse und die Systeme ableiten. Aus meiner Sicht ist ein realistischer Zeitrahmen drei bis fünf Jahre. Denken Sie nicht nur an den ersten Schritt, sondern auch an weitere Implementierungsphasen. Gerade bei der Systemauswahl ist das wichtig, damit Sie nicht in eine Sackgasse laufen, sondern ein System wählen, das Sie langfristig unterstützen kann. Die Strategie muss durchgängig sein. Sie darf nicht zu Widersprüchen oder Interessenskonflikten in der Organisation sowie den Abteilungen führen und muss den handelnden Personen klar sein.
Wie sieht eine Roadmap für den Weg zum digitalisierten Werk, der Smart Factory, aus?
Rieger: Die Roadmap muss sicherstellen, dass Sie den Weg bzw. die Meilensteine vom Ausgangspunkt, die IST-Prozesse, bis hin zum Endpunkt, die strategischen Unternehmensziele, definiert haben. Auf Ihrem Weg müssen Sie jederzeit wissen, wo Sie sich gerade befinden, was die nächsten Schritte sind und ob Sie sich noch auf der gewünschten Route befinden. Das ist jedoch recht komplex. Es geht nicht nur um IT, sondern um Produktionsabläufe und -prozesse – vor allem aber um Menschen, die jeden Tag damit arbeiten.
Nennen Sie ein konkretes Beispiel, welche Vorteile ein digitalisierter Prozess im Vergleich zu einem analogen bietet?
Rieger: Nur eines? Dann nehme ich das Thema Transparenz in der Planung. Dabei müssen viele Kriterien berücksichtigt werden. Wie ist die aktuelle Belegung der Maschine? Wann habe ich freie Kapazitäten? Wie lange wird der Auftrag laufen? Sind das Material, das Werkzeug und das erforderliche Personal verfügbar? In der analogen Welt muss der Planer all diese Punkte mit den verschiedenen Bereichen abstimmen, häufig über tägliche Produktionsbesprechungen. Jeder Praktiker weiß, dass all diese Themen hoch dynamisch sind und in der analogen Welt nicht nachgehalten werden können. Hier hilft nur ein System, das alle Kriterien und deren Status kennt. Dadurch versetzt es den Planer in die Lage, die Planung auf Basis richtiger Annahmen zu erstellen. Noch besser wäre, sie gleich systemgestützt erstellen zu lassen.
Wie unterstützen und begleiten Sie Fertigungsunternehmen bei der Digitalisierung von Fabriken und Werken?
Rieger: Wir klären mit unseren Kunden die strategischen Unternehmensziele, nehmen die Prozesse auf und definieren das kundenspezifische Zielbild sowie die Roadmap. Das führen wir vor Ort durch, schrittweise und in kleinen Paketen. Denn das Tagesgeschäft muss ja weiterlaufen. Akzeptanz unter den Mitarbeitern schaffen wir in Workshops durch Wissensvermittlung. Uns ist wichtig gemeinsam mit unseren Kunden alle Beteiligten auf allen Ebenen ins Boot zu holen.
Was raten Sie Unternehmen, die vor der Entscheidung stehen, ihre Produktion zu digitalisieren?
Rieger: Worauf warten? Die Herausforderungen werden sich nicht von allein in Luft auflösen und Veränderungsprozesse brauchen Zeit. Wichtig ist die ganzheitliche Betrachtung des Themas: Gehen Sie die digitale Transformation vom Prozess und Ihren spezifischen Anforderungen an. Suchen Sie dann die passenden Digitalisierungstools. Wichtig ist, Lean Management und Digitalisierung in Einklang zu bringen. Viele Unternehmen sind sich dessen leider nicht bewusst, was früher oder später zu Problemen führt. Entweder haben sie ein System gewählt, das die Anforderungen nicht abdeckt oder sie wissen nicht, wie sie das System in ihre Prozesse integrieren können.
Wenn Sie an die Produktionslandschaft in Deutschland denken, was wünschen Sie sich für die weitere Entwicklung dieses Wirtschaftszweigs.
Rieger: Schon allein aufgrund der Kostensituation können wir es uns nicht leisten, Verbesserungspotenziale liegenzulassen. Hinzu kommt der Fachkräftemangel. In der Produktion brauchen wir jederzeit Transparenz über die Prozesse und bei Abweichungen müssen wir sofort gegensteuern können. Durch Automatisierung müssen wir Mitarbeiter von Routinetätigkeiten befreien und durch Assistenzsysteme bei ihrer Arbeit optimal unterstützen. Produktion am Standort Deutschland wird nur mit zielführender und konsequenter Digitalisierung eine Zukunft haben.